Mit dem Pferdewagen in die eisige Nacht. Januar 45
Eine Lampe, provisorisch an einem rostigen Haken angebracht, schwang fast schon rhythmisch von rechts nach links. Sie führte einen Kampf mit den Wind, dem es ab und zu gelang sie hoch in die Luft zu schleudern, einen Kampf auf Leben und Tod. Ein fünfjähriger Junge schaute dieser Bewegung zu. Fasziniert sah er den Schneeflocken zu, die in ihrem wilden Tanz stehen blieben und am hellen Glass kleben blieben. Es erinnerte ihn an Nachtfalter, die im Sommer vor der Dunkelheit fliehend, sich an ihr Fensterglas drängten. Sie sahen so vertraut aus, so gewohnt, so sicher.
Er wollte seine Hand rausstrecken und das Licht berühren. Er wollte ein wenig dieser Wärme, die Motten und Schneeflocken, spüren. Er hatte aber Angst, dass wenn er sich zu weit hinauslehnt er von dem holprigen Wagen, auf dem er zusammen mit seiner Mutter, Bruder und Schwester saß. Zu all dem kannte er den Herren nicht, der vorne saß und die Zügel in der Hand hielt von dem Pferd, dass auch nicht ihres war. Er kannte die Menschen nicht, die sie ständig trafen. Sie sahen schrecklich aus. Sie trugen mehrere Mäntel auf dem Rücken, waren ganz vom Schnee und Frost zerfetzt. Sie setzten verzweifelt einen Fuß vor den anderen und sahen kein Stück so aus, wie die Menschen aus ihrem Dorf. Sie sahen wie niemand aus, den er kannte, so seltsam schauten ihre Augen in die eisige Kälte. Sie sahen wie erschrockene Rehe aus, die blind vor dem Schuss des Jaegers weglaufen, sie sehen nichts, laufen einfach nur weg und hoffen der Schuss jemand anderen trifft und nicht sie mit einer blutenden Wunde in den Schnee fallen.
Der kleine Josel dachte nicht in solch großen Worten, als er sich an dem Rockzipfel seiner Mutter mit allen Kräften, die er in seinen kleinen Händen hatte, festklammerte. Aber irgendwo in der Dunkelheit lauerte in seinen Gedanken genau dieses Bild. Er fühlte mit all seinem Wesen, dass die kleine Lampe mit dem Lichtstrahl, der so tapfer gegen jede kleine Schneeflocke ankämpfte, sich fest in sein Gedächtnis einprägen und ihm noch lange Hoffnung schenken würde und so verstand er es fast, was gerade passiert.
Als in seinem Kopf Gedanken wirbelten, die mit ihrem Ernst gar nicht zum kleinen Josel passten, verfolgten seine Augen schon fast automatisch die Bewegungen der kleinen Lampe. Es kam ihm so vor, als würde er sie auch mit geschlossenen Augen sehen können. Das schließen seiner Augen kam ihm immer angenehmer vor, denn dann musste er die fremden Menschen und die Dunkelheit nicht anschauen. Als er seine Augen schloss, waren sie noch alle zu Hause, auch Papa war da. Ihn hatte er schon lange nicht gesehen. Vor Monaten kam er in feldgrauer Uniform, drückte ihn in feldgrauer Uniform fest an sich und lies lange nicht los, eher er mit festem und regelmäßigen Schritt hinausging, nicht gesehen.
Er war lange fort und im Radio sprachen gehetzte Stimmen über seltsame Dinge und alles begann einer seltsame, geheimnisvolle Dunkelheit zu verschlingen, die keinen Platz für das Licht, das er einst mit jedem Lächeln in die Welt hinausstrahlte, lies. Immer öfter sah er überladene Menschen, die ihr ganzes Gut huckepack schleppten und trotz der eisigen Kälte hinaus in die Ferne gingen. Er sah die Augen seiner Mutter mit jedem Tag ein wenig mehr erlöschen, bis einer Nacht, in großer Hast und geflüstertem Geschrei, ihre Mutter ihn und seine Geschwister in alle warmen Sachen, die sie hatten, einpackte, auf den Wagen setzte, ins Stroh einige Beutel verstecke und ihn gegenüber dieser Lampe platzierte. Ab da an hütete er die Lampe, und die Lampe erleuchtete ihnen den Weg. Aus diesen Gedanken riss ihn dann ganz plötzlich das Weinen seines kleinen Bruders, den das Schluchzen seiner Schwester begleitete.
Der Junge warf einen Schrei der Missbilligung, der Furcht und der Sehnsucht aus. Er setzte in diesen all die Kraft, die sein kleiner Körper aufbringen konnte. Er wollte sich dem Schicksal, das er nicht im Stande war zu verstehen, widersetzten und schickte seinen Protest in die dunkle unbekannte Weite. Dort wurde der Schrei vom Winde entführt und mit lautem heulen in kleine Fetzen gerissen, denn der Wind war zu alt um dem Kind diese Hoffnung zu lassen. Sein Schrei konnte nichts ändern. Wo er auch hinflog, hörte er das selbe und er war es leid, sich immer wieder den Groll und die Trauer der Menschen anhören zu müssen. Er hatte keine Kraft mehr. Überall sah er Greisenaugen in Kindergesichtern, Menschen, die nie die Chance zum Leben erhielten, weil die Menschlichkeit in ihnen verstarb. Er sah Jungen in feldgrauer Kleidung, die nur für Männer bestimmt sein sollte, die mit Waffen hantierten, als seien es ihre Spielsachen. Er sah Witwen mit Kindern, die nie die Chance erhielten ihre Väter kennenzulernen. Er flog rund um die Erde, aber wo er nicht hinkam, sah er verbrannte Erde und trug das Weinen und Fluchen der Menschen vor sich. Er wollte nicht auch noch die Last dieses Kindergeschreis tragen, daher ließ er es verstummen und das Kind verstand es wohl, denn es wurde ganz still und versteckte seinen Kummer im immer noch warmen Arm seiner Mutter.
–Mama, wo fahren wir hin?– fragte der kleine Josel
–Kajś, kaj be bezpiecznie[1]– fragte die Mutter.
–A bandzie tam vater?[2]– fragte nach einer Weile der Junge.
–Synku, kajś na nŏs na zicher papa cekŏ[3]– antwortete sie. Sie wollte noch etwas sagen, aber das noch ungeborene Kind bewegte sich in ihrem Innern und sie spürte einen schmerzhaften Tritt in im inneren ihres Unterleibes. Sie legte ihre Hand dort, wo vor einer Sekunde ein winzig kleiner Fuß gewesen ist. Jymu tes jes zima[4], dachte sie. Sie suchte in ihrem Inneren nach noch einer letzten Reserve von Wärme. Sie teile es gerecht in vier Teile, jedem ihrer Kinder gab sie etwas davon. Sie suchte noch etwas tiefer nach etwas Wärme und mit einer Hälfte umhüllte sie sich selbst, die andere Hälfte schickte sie in die unbekannte Weite mit der Hoffnung, das wo auch immer ihr Mann jetzt ist, er den kleinen Funken Liebe spüren wird und wenn das Feuer dieser Welt ausgeht und die Hölle endlich erlischt, er zurück kommen wird.
Als sie wieder eine Gruppe von Menschen antrafen, drehte sich eine Frau um und fragte:
–Wie weit sind die Russen?
–In Kreuzburg waren sie noch nicht– antwortete sie mit Hoffnung in ihrer Stimme. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihr Elternhaus, die Wiesen, die Linde neben der Einfahrt in ihren Hoff und die Eltern, die sich von ihrer Tochter verabschieden. Es war ein kurzes Auf wiedersehen, die Flucht plötzlich, kaum jemand wusste, dass sie fortgingen und wo sie ankommen werden, dass wusste sie selbst noch nicht.
Der kleine Josel kletterte auf den Schoss seiner Mutter und drückte sich ganz fest an sie, denn er spürte, das von ihr eine seltsame Wärme ausging. Dieses Gefühl erlaubte es ihm den Winter, die Schneemassen, höher, als er selbst, die Dunkelheit und die schrecklichen, erschrockenen Menschen, zu vergessen. Es wärmte ihn auf und erlaubte der Kälte nicht bis zu seinem Herzen durchzudringen. Diese Wärme, die diese Frau an ihre Liebsten verschenkte, hielt all ihre Kinder am Leben, beschütze sie alle, bis sie in einem sicheren Kloster in Österreich ankamen, halt ihrem Mann sie und die Kinder wiederzufinden und nach langem hin und her wandern, endlich nach Hause zurückzukehren.
[1]Irgendwo hin, wo es sicher sein wird.
[2]Wird Vater dort sein?
[3]Sohn, irgendo wartet Vater bestimmt auf uns.
[4]Ihm ist wohl auch kalt
Die polnisch-oberschlesische Version hier / Wersyjŏ polskŏ-ślōnskŏ tukej: https://wachtyrz.eu/monika-neumann-furmanka-w-zimna-noc-styczen-45/