Bittere Schokolade
Ich habe schon manches Mal erwähnt, dass ich kein Historiker bin. Nichtsdestotrotz äußere ich mich öfters zu unserer Geschichte, insbesondere jener hundertjährigen, weil ich als Kind von den Alten viele Geschichten aus der alten Zeit erzählt bekam. Vor Kurzem feierte man in Deutschland wieder mal mit viel Pathos den Jahrestag der sogenannten “Reichskristallnacht”. Politiker aller Couleur überholen sich gegenseitig im Lob der jüdischen Gemeinden, des Staates Israel und schreien laut, während sich auf die Brust schlagen: “Nie wieder!” Allerdings kann ich das alles nicht richtig für wahr nehmen, denn die politische Korrektheit verlangt es, sich vom Faschismus zu distanzieren.
Aber wie haben die einfachen Menschen diese furchtbare Nacht erlebt?
In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 fand diese “Reichskristallnacht” auch in Beuthen statt. Reichskristallnacht, denn in jener Nacht faschistische Schlägertrupps der SA zerschlugen im ganzen Reich das Glas der Schaufenster jüdischer Geschäfte und Büros, Lampen, Gläser, Fenster, Lüster, und vielleicht sogar echte Kristalle… Wer weiß das heute schon?
Trotz aller betulichen Wohlstandsbilder der Wochenschauen war diese Zeit nicht für alle schön. Viele schlesische Kinder wurden gleich nach Sonnenuntergang ins Bett geschickt, um Elektrizität zu sparen. In dieser Nacht konnte der zehnjährige Hannes nicht gleich nach dem Abendgebet einschlafen, denn da draußen auf der Straße bebte das Leben… Nein, es war nicht das Leben, sondern das Beben Hunderter von beschlagenen Schuhen. Abwechselnd hörte man faschistische Lieder und Rufe wie: “Tod den Juden!” “Juda verrecke!” “Juden raus!” Sie mischten sich mit den Schreien, Weinen und Lamentieren der Misshandelten und mit dem Lachen des Beifall spendenden Mobs. Eltern befahlen ihren Kindern im Bett zu liegen und still zu sein. Niemand wagte es aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen. Hannes und seine Geschwister haben somit nichts gesehen und von nichts gewusst. – So wollten es die Eltern.
Als am nächsten Morgen der kleine Hannes zusammen mit seinen Freunden zur Schule ging und dabei den Beuthener Ring überqueren musste, wo sich die teuersten Geschäfte der Stadt befanden, staunte er nicht schlecht. Diesmal war alles anders als sonst: Viele der ehemals prachtvollen Läden befanden sich im jämmerlichen Zustand: eingetretene Türen, zerschlagene Schaufenster, kaputte Vitrinen… die beste Ware lag auf dem Boden, dazu noch die Schmierereien der letzten Nacht. Was war passiert? Natürlich interessierte sich Hannes nicht für die Geschäfte mit exklusiver Damenunterwäsche, nicht für Schmuck, Uhren oder Jagdbedarf… ihn interessierte vor allem der Süßwarenladen mit dem dunklen Holz seiner Tür, den hohen Schaufenstern, den schönen Vitrinen mit Pralinen und der teuren belgischen Schokolade, die sein arbeitsloser Papa, ehemals Stadtangestellter, sich nun nicht mal zum Feiertag leisten konnte. Wo früher die dickbäuchigen Prunkgläser mit bunten Bonbons, Lakritz und bunten Geleefiguren auf der Theke standen, herrschte heute das reinste Chaos: zerschlagene Vitrinen und Gläser, Bonbons und Schokoriegel lagen zusammen mit den Scherben auf dem Steinboden und durch die kaputten Fenster entwich der zauberhafte, verführerischer Duft… Gierige Kinderhände streckten sich schon im Vorbeigehen nach den himmlischen Gaben, doch bevor Hannes irgendetwas zu fassen kriegte, stoppte ihn die zornige Stimme des SA-Mannes, der vor der kaputten Tür den Laden bewachte:
- Halt! Nicht anfassen! Ist jüdisch…
Der kleine Hannes kannte jedoch den himmlischen Geschmack jener Süßigkeiten, denn manchmal auf den Weg von oder zur Schule besuchte er den Laden, einzig um den wunderbaren Duft zu schnuppern. Manchmal sogar schenkten ihm die Besitzer ein Bonbon und zu jüdischen Feiertagen sogar eine Praline. Es war unwichtig, dass sie jüdisch waren oder vielleicht sogar koscher… Es zählte ja nur, dass sie gut und süß waren! Deswegen gaben die Jungs nicht gleich auf und fotzelten:
- Was will der Kerl hier bewachen?
- Wer will schon die Ware vom Boden kaufen!? Keiner!
- Die Männer der Partei kommen sicherlich später hierher zurück und teilen alles untereinander auf.
- Das nennt sich wohl “Arisierung”!
Als der SA-Mann kurz im Eingang verschwand, um sich eine Kippe anzuzünden, stürmten die Jungs in zwei Gruppen die zerschlagenen Schaufenster und stopften sich schnell in die Taschen, was sie zu greifen konnten. Sekunden später rannten sie weg und hörten nur die Schreie des braunen Wächters und das Stampfen seiner schweren Stiefel auf dem beuthener Kopfsteinpflaster. Alarmiert von dem Radau beteiligten sich weitere Parteimitglieder an der Verfolgung, wo sie in der Nähe waren.
Die Jungs flüchteten in die Stadt durch kleine Gassen und Innenhöfe, durch die auf Leinen aufgespannte Wäsche, sie sprangen über Stock und Stein, kletterten über Zäune und kleine Mauern… bis sie auf dem Hof einer großen Möbelspedition ankamen, wo gerade der Hochbetrieb herrschte: LKWs und große Pferdewagen fuhren rein und raus, Mitarbeiter trugen große Kartons, Holzkisten und Möbel… und dazwischen die lachenden Schuljungen. Zuerst versteckten sie sich unter einem großen Pferdewagen, dessen tief hängende Plane sie verdeckte. Da sie aber sahen, dass die braunen Hescher immer noch nicht aufgegeben hatten, schauten sie sich nach einem besseren Versteck um. An der Seite eines anderen Wagens erblickten sie eine große unverschlossene Kiste, die sich öffnen ließ. Sie öffneten die Klappe und schlüpften hinein, um abzuwarten, bis die Verfolger abgezogen und es sich beruhigt hatte. In der heimeligen Dunkelheit ihres Versteckst teilten sie ihre süße Beute. Hannes hielt in der Hand ein kleines Täfelchen weich gewordene Schokolade, weshalb er sie nicht mehr nach Hause bringen wollte, sondern sofort vor der Arisierung retten. Instinktiv befreite er sie von der Umverpackung und vom Silberpapier. Anschließend stopfte er sich den Klumpen Schokolade auf einmal in den Mund…
Sie war bitter…