Adam Kubik: Über Tomasz Kamusellas „Limits / Styknie“
Adam Kubik (Universität Heidelberg)
Eine anspruchsvolle Lektüre mit viel Überraschungseffekt, die Schicksale sprechen lässt. Über die sprachlich-kulturellen Aspekte von Tomasz Kamusellas „Limits“ und der schlesischen Übersetzung Marcin Melons „Styknie“
Das im Dezember 2019 im oberschlesischen Verlag Silesia Progress erschienene Buch von Tomasz Kamusella Limits, samt der von Marcin Melon angefertigten Übersetzung ins Schlesische Styknie, ist eine unverhoffte Überraschung in vielerlei Hinsicht. Es ist zumal kein üblicher Schlesien-Roman, sondern ein Sammelband von sieben voneinander unabhängigen Kurzerzählungen, die jedoch durch das Thema der unterdrückenden Vergangenheit von verschiedenen kulturell-politischen Konflikten verbunden sind. Die Erwartung seitens der Leserschaft, es müsse sich dabei um eine schlesische Geschichtensammlung handeln, wird nicht erfüllt, denn es geht dabei um weitaus mehr als um die eigene Heimat. Jene Regionen wurden nämlich im Vordergrund aufgezeichnet, deren Gesellschaften Unterdrückung, Völkermord oder kriegerische Auseinandersetzungen erfahren mussten. Auf diese Weise wurden all diese bislang ungehörten Stimmen in einem globalen Kontext gesetzt und ihnen eine Ausdrucksmöglichkeit gegeben.
Die Wahl des Englischen für die Originalfassung aller Kurzgeschichten des an der ältesten Universität Schottlands tätigen Geschichtsprofessors – Tomasz Kamusella – sorgt für die erste Verwunderung bei der oberschlesischen Leserschaft. Es verwundert jedoch nicht die Kenner seiner wissenschaftlichen Abhandlungen, da die überwiegende Mehrzahl der Publikationen, des aus dem Annabergland stammenden Wissenschaftlers, in der Weltsprache – Englisch – verfasst worden sind. So gelang, dank seiner Abhandlungen, auch häufig die oberschlesische Thematik in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs. Die Sprachenwahl überrascht jedoch insofern, dass die englischsprachigen Erzählungen in der oberschlesischen Heimat Kamusellas erschienen sind, darüber hinaus in einem heimatlichen Verlag, der sich auf neuartige Veröffentlichungsformen zu spezialisieren scheint. Davon zeugen die bisherigen Publikationen von Silesia Progress: Überwiegend schlesisch- und polnischsprachige Essaybände, Romane und Krimi-Serien, Übersetzungen ins Schlesische von weltbekannten Kinderbuchklassikern wie Winnie Puuh oder Der Kleine Prinz, oder ins Polnische des deutschsprachigen Klassikers zu Oberschlesien von August Scholtis Ostwind. Mit dem Sammelband Limits – Styknie schreibt der Verlag eigene Geschichte, da es seine erste englischsprachige Publikation darstellt.
Der oberschlesischen Leserschaft ist Kamusellas Sammelband von Erzählungen grundsätzlich dank der Übersetzung ins Schlesische von Marcin Melon zugänglich gemacht worden. Diese sprachliche Fassung kann jedoch dem ans verschriftliche Schlesisch nicht gewohnten Leser einige Schwierigkeiten bereiten. Dies ergibt sich durch die Orientierung der Übersetzung an einem der ostoberschlesischen Dialekte des Schlesischen, was ebenso bei einem Muttersprachler aus dem zentraloberschlesischen Gebiet der Kobylŏrze als etwas befremdlich vorkommen mag. Es ist durch einen teilweise im Annabergland unbekannten und teilweise modifizierten Wortschatz zu begründen. Zum einen wird dieses befremdliche Gefühl in der Abschwächung bzw. Abkürzung von Lauten vermittelt, zum anderen in einer unterschiedlichen Aussprache. Das Erste äußert sich durch kurze Vokalformen von „o“ und „u“ an Stellen, die in Zentraloberschlesien von Doppellauten „ŏ/ou“ und „uj“ eingenommen werden. Das Zweite fällt bei den Wörtern wie „durś“, „richtiś“, „yntliś“, „fertiś“ auf, die im Annabergland eine harte Aussprache des „ch“ (/x/) als „durch“, „richtich“, „yntlich“, „fertich“ besitzen. Die schlesische Übersetzung kann jedoch die möglicherweise insuffizienten Englischkenntnisse des Lesers stützen, oder sich gegebenenfalls einem an Schlesisch interessierten Englischsprecher als dienlich erweisen. Dank der Konzipierung des Buches, wie es bei zahlreichen zweisprachigen Publikationen der Fall ist, befindet sich die eine Sprache auf der linken Seite (hier: Schlesisch), die andere auf der rechten (hier: Englisch), wodurch ein quasi direkter Sprachvergleich ermöglicht wird.
Ein weiterer Überraschungseffekt bietet neben dem Status der ersten englisch-schlesischen Veröffentlichung in Schlesien und in Polen, wie gewagt wird zu behaupten, die wohlbemerkt ohne das Polnische herausgebracht wurde. Zudem beinhaltet das Buch ein Vorwort von Jan Maksymiuk in der podlachischen Sprache. Diese linguistische Zusammenstellung, bei der zwei Sprachen – Schlesisch und Podlachisch – keinen offiziellen Status einer Regionalsprache in Polen aufweisen, lässt über die beiden eine Schirmherrschaft der globalen lingua franca – des Englischen – ausspannen und setzt sie zugleich, aufgewertet in ihrer großen Bedeutung für die jeweiligen Regionen, in einen globalen Kontext der Sprachenwelt ein. Es kann als eine Manifestation einer linguistischen Unabhängigkeit von dem die beiden Sprachen einvernehmenden Polnischen gedeutet werden.
Der englische Titel des Sammelbandes, der sich als „Grenzen“, „Abgrenzungen“, „Beschränkungen“, und sein schlesisches Pendant, das wiederum sich als „es reicht“ oder „nie wieder“ übersetzen ließe, bilden zusammengesetzt als Limits – Styknie eine auf zwei Sprachen aufgeteilte Aussage des Widerstands gegen jegliche Formen der Repressionen und Diskriminierung. Denn dies sind, wie es Marcin Melon in seinem schlesischen Vorwort erfasste, die Grenzen, die wir nicht missen dürfen, andernfalls bleibt nichts außer eines lauthalsigen „Es reicht!“.
Wie Kamusella es in seinem englischsprachigen Vorwort vermerkte, sind die Kurzerzählungen Früchte einer akademischen Übung, eines aktiven Hineinversetzens in die historischen Ereignisse, die er während seiner langjährig Unterrichtsveranstaltung über ethnische Säuberungen und Genozid an der University of St Andrews durchgeführt hatte. Er versucht mithilfe einer kurzen Erzählform auf den Prozess von rassistisch, religiös, ethnisch, sprachlich oder politisch motivierten Abgrenzungs- und Diskriminationsformen aufmerksam zu machen, die sich in verschiedenen Regionen der Welt im 20. Jahrhundert ereignet haben. Das Ziel war, einen Sensibilisierungsversuch der Gesellschaft zu wagen, um durch eine literarische Darstellungsform von Repressalien, ein Nachempfinden bei der Leserschaft zu erzeugen, und um weiteren Unterdrückungen vorzubeugen.
Dem Leser werden sieben Kurzerzählungen präsentiert, in denen er auf fiktive, doch zugleich lebendige, Schicksale von Protagonisten stößt, die in einen Rahmen historischer Ereignisse eingebettet worden sind. Die erste Kurzerzählung Zaś nazod/The Reincarnation (dt.: Wieder zurück/Die Wiedergeburt) bezieht sich auf die chinesische Realität unter der kommunistischen Regierung, in der ein gewisser Mao II. behauptet erneut geboren worden zu sein. In der zweiten Erzählung Paniczka i kapelōnek/Lady of the House (dt.: Das Fräulein und der Geistliche/Die Dame des Hauses) spielt in Paraguay zwischen den Städten Conceptión und Belén, mit der Guarani sprechenden indigenen Protagonistin Conchita und dem Helden Pater Francisco. Dabei wird das Thema von Religion als Instrument der Repression behandelt und der Umgang mit einheimischen Völkern Südamerikas.
Die Erzählung Na drugi dziyń/The Day After (dt.: Am nächsten Tag) spricht das Schicksal des in Polen lebenden Piotr an, der es bereut nicht mit Deutsch, sondern lediglich mit seinen idiomatischen Ausdrücken in der Landessprache aufgewachsen zu sein. Einzelheiten wie der Gebrauch des Wortes „fater“ oder die Ausreise von zahlreichen guten Fachkräften in die BRD, lassen darauf schließen, dass es sich hierbei um die schlesische Region handelt. Dabei wird u.a. die Diskrepanz zwischen dem Land der Herkunft und der EU angesprochen.
In der kurzen Geschichte mit dem Titel Ujek/Uncle (dt.: Onkel) wird das Schicksal der Roma thematisiert. Der als Kako bezeichneter Protagonist, was in Romanes „Onkel“ bedeutet, berichtet seinem Neffen aus der aktuellen Zeit über die Geschehnisse der Vergangenheit. Es wird dabei nicht nur die familiäre Verteilung auf verschiedene europäische Länder wie Polen, Deutschland, Frankreich oder England angesprochen, sondern auch die Abhandlung des dramatischen Umgangs mit den Roma während des Holocaust u.a. in Auschwitz.
In der Erzählung Styknie/Limits, dessen Name für den Titel des Sammelbandes übernommen worden ist, wird Ozymandias, ein Unternehmer der Gegenwart, von einer weißrussischen Agentin erschossen. Dabei wird der Kampf zwischen der ehemaligen sowjetischen Macht und den Einflüssen Brüssels in Osteuropa zum Gegenstand der Geschichte.
Die sechste Erzählung, Lagramyncki ôbsztalunek/Terms of Commerce (dt.: Herzloser Auftrag/Geschäftsbedingungen), spricht Belgiens Machenschaften im afrikanischen Ruanda an. Dabei spielt der Kontakt mit China ebenfalls keine unbedeutende Rolle, wie auch die völkermörderischen Konflikte der 1990er Jahre.
Die letzte Erzählung, Zawiyszyniy brōni/A Temporary Cessation of Hostilities (dt.: Waffenstillstand/Vorübergehende Einstellung der Feindseligkeiten), greift als Thema den größten kriegerischen Konflikt der 1990er in Europa Jahre auf. Hierbei wird das ehemalige Jugoslawien und dessen Anfeindungen zwischen den Serben, Bosniern und Kroaten, aber auch zwischen den vorzutreffenden Religionen: Christentum, Judentum und Islam, thematisiert.
Unter jeder Erzählung der Originalfassung wurden entweder das Entstehungsdatum oder der Entstehungsort angegeben. Das Letztere wurde entweder in einer Sprache oder bilingual verzeichnet, oft in den regionalen Sprachformen, z.B. auf Schottisch und im schottischen Gälisch: Saunt Andraes/Cill Rìmhinn für St Andrews, oder auf Deutsch im Falle des Heimatortes von Kamusella: Czissowa.
Der Titel und die Sprachenwahl für diesen Sammelband, errichten nicht nur Grenzen in Bezug auf jegliche Unterdrückungsformen und stellen dabei einen Aufschrei des unabhängigen Handlungswillens der bislang Unterdrückten über ihr eigenes kulturelle Erbe dar, sondern die beiden Faktoren wagen auch das Verständnis von der schlesischen Region und Sprache zu verändern. Das Buch ist als Statement zu betrachten. Eines, das die Sprache samt der oberschlesischen Region aus dem polnischen Verständnis-Rahmen herausreißt. Und zwar, dass es keine verspottete Kohlengrubben-Region mit einer fehlerhaften Variante des Polnischen darstellt, sondern das Oberschlesien eine europäische Region ist, dessen Geschichten in einen globalen Kontext gesetzt werden können und in dessen Sprache sich alles ausdrücken lässt.
Limits – Styknie ist eine anspruchsvolle Lektüre, die jedem zu empfehlen ist, der Interesse daran empfindet seine mentalen Horizonte hinsichtlich historischer Geschehen des 20. Jahrhunderts zu erweitern, die trotz ihrer großen Bedeutung oft nur oberflächlich bekannt sind. Das Sammelband eröffnet die Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung mit schwierigen Themen, die dank einer literarischen Darstellung zugänglicher werden und Wissenslücken zu füllen helfen. Es ist eine Veröffentlichung, die besonders Historikern, Politologen, Philologen und Theologen nahezulegen ist.
Tomasz Kamusella, Limits – Styknie. Aus dem Englischen ins Schlesische von Marcin Melon, (Silesia Progress: Kotōrz Mały 2019).
Adam Kubik, Ing., M.A. – geb. 1986 in Groß Strehlitz, ist Doktorand im Fach Germanistik im Kulturvergleich an der Universität Heidelberg, Schlesienforscher, DaF-Lektor, Sachbuchautor, Raumplaner.